Peter S. (Schamwand)

Auszug aus dem Roman

Angespannt wie schon lange nicht mehr, mit einer Furcht, die sie nicht benennen konnte, trat sie heute vor die Anstalt. Als hätte diese eine Woche, die sie nicht da gewesen war, schon den Trott verändert, als wüsste sie nicht, wie der Einlass funktionierte. Langsamer als sonst ging sie den Weg von der Pforte zum großen Eisentor, an dem sie von einem Beamten abgeholt und zur Teilanstalt gebracht wurde. Sie blickte um sich, und wieder hinterließ die scheinbare Idylle dieses Platzes, dieses Niemandsland, wie sie es auch nannte, ein Gefühl von Hoffnungslosigkeit. Es hätte der Ort sein sollen, an dem sie ihr Leben draußen ablegte und das drinnen aufnahm, so wie sie beim Verlassen der Anstalt genau auf diesem Platz, mit dem Lindenbaum mittendrin, das Anstaltsleben ablegen sollte. Das war ihr geraten worden, ganz am Anfang, als sie in die Anstalt gekommen war, dass sie die beiden Welten nicht vermischen sollte. Sie lachte kurz laut auf. Wieso hatte niemand auf sie aufgepasst?
Als sie ins Besprechungszimmer gehen wollte, lehnte ein Häftling an der Wand, direkt neben der Tür, Er ist noch nicht da, sagte er, mit einer lässigen Kopfbewegung Richtung Raum. Sie hatte ihn schon ein paar Mal bemerkt, wenn sie in die Anstalt kam, diesen großen breiten Mann, scheinbar gewohnt, auf Frauen zu wirken, mit einer Tätowierung auf dem rechten Oberarm, fleischige Arme, das Gesicht länglich mit zu viel Haut, der Nacken angewachsen an den Kopf und eine Glatze, nicht die eines Rechtsextremen, sie wirkte wie ein Statement zu seinem Haftstatus. Das kann noch dauern, sprach er weiter, Peter S. habe noch einen Termin, aber er könne ihr ja die Zeit etwas verkürzen. Dabei blieb er weiter lässig an die Wand gelehnt und fing an zu erzählen. Sie hatte ihn nicht dazu aufgefordert, wollte einfach weitergehen, Peter S. würde sicher gleich kommen, oder hatte er wirklich einen Termin, daran hatte sie nicht gedacht, Gefangene haben doch immer Zeit, sie hätte sich anmelden sollen, aber wie. Und nun redete dieser Mann auf sie ein, als müsste er sich rechtfertigen, sprach davon, dass er als Musterexemplar von Resozialisierung gegolten habe, vier Mal schon habe er wegen Vergewaltigung gesessen, bis er vor über zehn Jahren entlassen worden sei. Die Stadt habe er gewechselt, eine Fleischerei aufgemacht, unauffällig gelebt habe er, zufrieden. Selbst seine Kinder hätten wieder Kontakt zu ihm aufgenommen. Alles das erzählte er in rasendem Tempo, es war ihm wohl bewusst, dass jeden Moment Peter S. kommen konnte und das Gespräch somit abrupt beendet wäre. Andrea hatte sich einmal umgedreht, einen Blick zum Beamten in der Zentrale geworfen, doch der nahm keine Notiz von ihr. Hilflos ließ sie den Redeschwall über sich ergehen, er sprach von DNA-Spuren und seiner Frau, die 10 Jahre später sein Alibi widerrufen hatte, davon, dass er das Mädchen vergewaltigt habe, aber er sei kein Mörder. Sie verstand nicht, was er meinte, konnte sich nur zusammenreimen, wollte nicht nachfragen, nicht auch noch Interesse zeigen. 13 Jahre sagte er noch, und sie war sich sicher, dass er damit nicht das Strafmaß sondern das Alter des Mädchens meinte. Sie sah ihn an, wie er da so groß vor ihr stand, mit jedem Wort schien er zu versuchen, sie für sich zu gewinnen, sie konnte spüren, wie seine Gedanken ihr zu schmeicheln versuchten. Stocksteif stand sie da, wartete darauf, dass Peter S. endlich auftauchte. Ungeschickt drehte sie den Kopf noch einmal zu dem Beamten hinter dem dicken Glas. Es war so eng auf diesem langen Flur, ein Kloßgefühl hatte sie im Mund, sie wusste nicht, wie entkommen, niemand, der sie wegzog, so wie Hansi, im Schulflur hatte er sie in eine Nische gezogen, weg von den anderen, ganz frech, viel zu jung war sie dafür gewesen, und doch war sie mitgegangen, hatte sie sich mit ihm in die Ecke gedrückt, Körper an Körper gepresst, nichts weiter, ein dickes Gefühl war das, dick lag es auf der Zunge, wölbte sich hoch zum Gaumen, dieses Kloßgefühl im Mund, hatte es nicht zuordnen können, aber jetzt wusste sie, es kam von dieser Ecke, braunes, dunkles Holz, ein Geruch nach Bohnerwachs, wie in der Kammer in der Küche, noch früher, noch dunkler, viel dunkler, schwarz, wenn die Tür von außen zugemacht, kein Platz, sich umzudrehen, so eng, und vor ihr Regalbretter voller Putzmittel und Lappen und Bürsten und Bohnerwachs, der penetrante Geruch von Bohnerwachs, schlecht war ihr geworden in der Besenkammer, in die sie gesperrt worden war, das Kloßgefühl auf dem Zungenrücken am Gaumen. Sie wollte etwas sagen, diesen Mann mit Worten fernhalten, doch er kam ihr noch näher, den Oberkörper lehnte er ein wenig nach vorne, seine Hände wie zum Gebet gefaltet beschwor er sie förmlich, ihm zu glauben, Peter S. sei nicht der Einzige, der unschuldig eine lebenslange Haftstrafe verbüßte. Es müsse doch endlich jemand von außen darauf aufmerksam gemacht werden, wie viele Fehlurteile gerade im Bereich Mord gefällt würden. Wie viele Leben zusätzlich von einer Justiz zerstört würden, die nur auf schnelle Erfolge aus sei.
Plötzlich löste er sich von der Wand, gab ihr die Hand, bedankte sich ganz freundlich für das nette Gespräch, als hätten sie übers Wetter geplaudert. Dann ging er an ihr vorbei und klopfte Peter S. auf die Schultern, dieser hob gezielt die Hand in seine Richtung, unwirsch, aber der Gefangene setzte noch ein Na, dann viel Spaß euch beiden, hinterher und schlenderte den Flur entlang.
Es tut mir leid, hat er sie arg belästigt? Ich war mir nicht sicher, ob sie heute wiederkommen, und das Wasser – Kein Problem, sagte sie knapp, wollte sich nichts anmerken lassen, aber das Kloßgefühl ließ sich nicht vertreiben, sie betraten den Besprechungsraum, Andrea zog die Tür so weit als möglich zu, als wollte sie sich versichern, dass der Mann nicht wieder kommen konnte, sie stellte sich ans Fenster, brauchte Distanz, diese Enge vorhin, aber der Blick aus dem Fenster war eingeschränkt, sie hätte gerne den Kopf hinausgestreckt, doch das verhinderten die Gitterstäbe. Peter S. sprach in ihren Rücken, vom heißen Wasser, das er nicht schon vorher aus dem Boiler herausgelassen hatte, weil letzte Woche, da habe er etwas unbeholfen dagestanden mit der vollen Thermoskanne und den Tassen und deshalb habe er heute abgewartet, ob er sie über den Hof kommen sehe. Kein Problem, wiederholte sie, ich konnte Sie ja schlecht anrufen, ein scherzhafter Ton wollte ihr nicht gelingen, zu sehr war sie noch in der Situation von vorhin. Der Mann scheint ja sehr überzeugt von seiner Unschuld, sie sagte es mehr für sich.
Sie zweifeln doch nicht ernstlich?
Warum sollte es bei ihm auch nicht stimmen?
Weil er der typische Fall von weniger schuldig ist. Sie waren krank?
Es ist mir etwas dazwischen gekommen, sie sagte es, ohne zu zögern.
Und was, das wollen Sie mir nicht verraten?
Was ist denn ein typischer Fall von weniger schuldig?
Sie sind hartnäckig. Sowohl in Ihrer Verschlossenheit als auch Ihrer Ambivalenz.
Es war nichts Wichtiges. Sie sagte es fast schuldbewusst. Wie hatte sie glauben können, dass es ihn nicht interessierte. Es war ja auch ein Affront ihm gegenüber. Ich hoffe, Sie haben sich keine Sorgen gemacht. Er nickte leicht, gewundert habe ich mich schon, und – er legte seinen Kopf ein wenig zur Seite – beunruhigt war ich. Es hätte ja sein können – Mit einem Mal wurde ihr bewusst, was sie getan hatte, natürlich musste er glauben, dass sie vielleicht nie wieder kam, dass sie einfach so weg blieb. Er hätte keine Möglichkeit, zu ihr Kontakt aufzunehmen. Es tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe. Sie versuchte, es leicht zu sagen. Was ist jetzt mit weniger schuldig?
Das sind die, die nur ihr Strafmaß verkürzen wollen, er klang fast genervt, aus dem lebenslang eine Zeitstrafe von zehn Jahren machen, von Mord auf Totschlag, oder ob er ihr nicht erzählt habe, dass er das Mädchen zwar vergewaltigt, aber nicht getötet habe. Sie glaube ja gar nicht, wie oft das vorkomme, dass einer seine Frau nur halb getötet habe, danach aber noch jemand vorbeigekommen sein müsse, ein großer Unbekannter, von dem es keine Spuren gebe, der noch hinterhergetreten oder gewürgt oder was auch immer zum Tode führendes getan haben müsse, aber man selber sei nur ein bisschen ausgerastet, aber sie habe noch gelebt, als man sie im Straßengraben habe liegen lassen. Ja, wir haben hier viel Zeit, uns unsere Taten schönzureden.
Sie drehte sich um; als hätte es einen Schlag getan, sahen sie sich an, er wich aus, griff in seine Tüte, stellte Tassen, Thermoskanne und Kaffeepulver auf den Tisch, lud sie mit einer Handbewegung ein, sich zu setzen, eine Geste, als wäre sie erst zum zweiten Mal hier, sie sagte leise: Wir, Sie haben wir gesagt, es hätte im auffallend lauten Klappern untergehen können, zumindest schien er es zu ignorieren, schüttete heißes Wasser in die Tassen, er setzte sich nicht, drehte sich auf der Fußspitze um sich selbst, zweimal, unerwartete Eleganz in dieser Bewegung, auch seine Hand, die, als er stoppte, auf sie zeigte. Erwischt, sagte er, das denken Sie jetzt, nicht wahr, darauf haben Sie gewartet, dass ich mich verrate, ein unschuldiges Wir wird Ihnen Indiz genug. Ja, wir haben viel Zeit in unserem begrenzten Raum, vor allem am Wochenende, sechzehn Stunden, die Tür von außen verschlossen, und keine Chance, zu entkommen.
Der Geruch von Bohnerwachs, wenn die Tür von außen zugemacht, kein Platz, sich umzudrehen, so eng – wie lange hatte sie in der Kammer gestanden?
Sie meinen, ich rede mir mein Urteil schön? Aber ich habe niemandem etwas angetan, schon gar keine Gewalt. Ich kann es mir nicht einmal vorstellen. Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, was es braucht, um einen Menschen zu töten? Wie sehr muss das Gesichtsfeld des Betreffenden, die Wahrnehmung, eingeschränkt sein, um sich auf diese Tat, diese ungeheuerliche, zu konzentrieren. Was nimmt so ein Mensch von seiner Umwelt wahr? Wie sehr muss der Handlungsspielraum begrenzt worden sein, hier gibt es welche, die schlagen schon zu, wenn sie nur Guten Morgen sagen, einfach weil sie sich angegriffen fühlen. Weil sie wohl ihr Leben lang angegriffen wurden. Vielleicht ist auch einfach etwas im Kopf kaputt, eine Schaltung, die anders reagiert als bei uns. Oder warum schlägt ein Mann seiner Frau einen Stein über den Kopf, nur weil sie zu viel redet? Das sind doch ernsthafte Probleme, die so jemand haben muss.
Und was machen wir mit diesem Menschen? Sperren ihn ein, lassen ihn allein, lassen ihn sein Gesichtsfeld noch mehr verengen. Nicht nur das, wir geben ihm Anlass, gegen seine Situation aufzubegehren, sich mit der Anstalt anzulegen, er wird schikaniert, von einer Obrigkeit gegängelt, alles ist verboten, vom Handy über die freie Berufswahl, oder reglementiert, wie Besuche, Anzahl der Bücher – dem Gefangenen wird immer ein Grund geliefert, sich an Kleinigkeiten aufzureiben, statt die Schwere seiner Schuld und das Ausmaß seiner Tat begreifen zu lernen. Wenn er aufbegehrt, wird er noch mehr isoliert – länger weggesperrt, damit er noch länger an die Wand starren kann, ohne Ansprache außer den Fernseher, kein Außen, kein Kontakt. Oder gar in den Bunker gesperrt. Da lernen Sie richtig, was Staatsmacht und Staatsgewalt bedeutet. Da kommen die Beamten zu viert, mindestens, und nehmen dich in den Schwitzkasten. Dann donnern sie dich auf den Rücken, die Arme nach hinten gebogen, und einer stellt noch seinen Fuß auf deinen Bauch. Der nächste rennt los und schließt den Bunker auf. Und auf dem Weg in den Keller holt er Verstärkung. Das kostet die nämlich Kraft, einen Mann von meiner Größe, mit meinem Gewicht und meinem Willen an Händen und Füßen auf die Pritsche zu fesseln. Da gehen Kräfte in ihnen los, von denen sie gar nicht wussten, dass sie sie haben. Natürlich werden die es schaffen, und wenn sie mit zehn Mann antreten müssen. Dann liegst du da auf dem Rücken, an Hand- und Fußgelenken, an allen vier Punkten fixiert, wie das in deren Deutsch heißt. Und dann musst du aufs Klo. Die Toilette ist eine Stahlschüssel, damit man ja nichts abmontieren und als Waffe gebrauchen kann. Aber das ist jetzt egal, denn du kannst ja ohnehin nicht hingehen. Du musst warten, bis ein Beamter dich losmacht. Und wenn die dann kommen, zu sechst mindestens, riechen die natürlich, dass du es nicht ausgehalten hast, 24 Stunden ohne aufs Klo zu gehen, und dann lachen die. Machen sich lustig über den kleinen Dreckskerl, der sich eingepullert hat wie ein Baby. Und dann binden sie dich los. Gewappnet, dass du gleich ausrastest. Und dann deine aufgestaute Wut nicht sofort und ohne zu überlegen an den Beamten auszulassen, die dich gerade losbinden, das erfordert eine Selbstdisziplin, die nicht zum Bild eines renitenten Knacki passt. Und danach hast du richtig schlechte Karten. Holst dir Nachschlag. Geht auch bei LL. Geht vor allem in deine Akte ein, in die Vollzugsplanfortschreibung. Er lachte, als hätte er eine wirklich komische Anekdote aus seinem Leben erzählt. Und das alles, weil du nicht gekuscht hast. Aber am Ende soll ein sozial kompetenter Mann dastehen. Das Vollzugsziel heißt nämlich in Wirklichkeit: angepasste Idioten züchten.
Mit einem Mal nahm sie die Enge wieder wahr, die wahrhaftige Enge einer wahrhaftigen Gefängniszelle, sie stellte sich vor, wie die Gedanken in den langen Stunden des Einschlusses immer enger wurden, wie sie ihn gefangen hielten, ohne Möglichkeit, zu entfliehen – sie konnte ihren Gedanken davonlaufen, ihre Tür war von innen versperrt, sie konnte es nicht nachvollziehen, nein, es war und blieb Trockenschwimmen.
Hier bekommt man nicht die Möglichkeit, sich auf sich selbst zu besinnen, sich zu finden, die glauben, das passiere von alleine, aber stecken sie mal Menschen, die grade im Leben überhaupt nicht klarkamen, mit lauter solchen Menschen zusammen, die auch gerade in ihrem Leben nicht klarkamen, die enttäuscht, voller Wut, frustriert, aggressiv, vollgedröhnt, oder was auch immer Ihnen Negatives einfallen mag, sind, und die sollen jetzt miteinander klarkommen, an denen soll man jetzt seine soziale Kompetenz beweisen. Und auf der Gegenseite minderbemittelte Beamte, die keinen Bock auf ihren Job haben, die sich entwürdigt fühlen, dass sie sich mit solchem Abschaum wie uns abgeben müssen, und die ihre Macht, die ihnen durch das Tragen des Schlüssels gegeben wird, deshalb umso genüsslicher ausspielen.
Sich selber wiederfinden. Wer war er, wenn er einfach auf der Straße stand und niemand sein musste? Wenn alle Hüllen, alle Rollen von einem abfielen, wenn man auf das Wesentliche reduziert wurde, wer war man dann? Wenn Schale um Schale von einem abfällt wie bei einer Zwiebel, was blieb dann über? Welcher Kern? Oder doch nur Schale um Schale, und am Ende war da nichts? Aber er war ja da, 1,80 groß, gut 90 Kilogramm schwer, die weiße Haut saß fest auf seinen Knochen. Da war jemand. Ein Wesen, das (g)e(r)nährt werden will, das sich ausruhen muss, sich bewegen muss, jemand, der reden wollte, sich mitteilen, der das, was er erlebte, was ihn bewegte, teilen will. Das greifen und fühlen und tasten und schmecken will. Es war nicht so leicht, einfach zu sein. Er musste etwas darstellen, um zu überleben. Eine Rolle überstreifen, um sich Essen zu beschaffen. Musste sich auseinandersetzen mit den Menschen, um etwas zu bekommen, was er für sein Dasein benötigte. Es reichte nicht, auf dem Sofa zu sitzen, in die Welt hinauszuschauen und sich zu fragen, wer man sei. Sei wie der Spiegel – aber auch dann musste er seinem Körper Energie und Ruhe zuführen, auch die größte innere Gelassenheit konnte die Gesetze der Natur nicht außer Kraft setzen. Man kann uns nicht einfach abstellen, auch wenn die meisten das glauben, dass wir hier einfach Ruhe geben sollen.
Ich denke, sie können es sich gar nicht vorstellen. Oder hatten Sie vor Ihrer Inhaftierung irgendeine Ahnung von dem Leben hinter den Mauern? Eine Ahnung davon, dass man eben leben muss. 24 Stunden am Tag, 30 Tage im Monat, 365 Tage im Jahr.