schwerelos
Die Flieger sind schön. Das hab ich gar nicht mehr gewusst, dass die so schön sind. Wenn ich wieder einmal Ausgang hab, muss ich unbedingt zu den Fliegern. Das muss ich dem Theo sagen, dass ich zu den Fliegern muss. Der wird dann sicher gleich wieder Angst kriegen, dass ich mitfliegen will. Wo ich doch schon so alt bin und mit dem Fliegen das zu gefährlich ist. Ist auch so lange, dass ich nicht geflogen bin. Sehr lange. Aber ich spür, wie’s mich reizt. Den Wind um die Ohren, und die Welt da unten so klein, und über mir der ganze Himmel, als wär er nur für mich gemacht. Gott hat in seinem unermesslichen Übermut einen ganzen Himmel gemacht, nur für mich. Und die Vögel fliegen mit mir um die Wette.
Ich werd dem Theo nicht sagen, dass ich zu den Fliegern will. Ich werd’s ihm erst erzählen, wenn ich’s gemacht hab. Und dann kann er schimpfen, wie er will. Das macht dann ja nichts mehr. Dann bin ich ja schon draußen gewesen. Droben in den Lüften das Gefühl hab ich dann ja schon gehabt, das unglaubliche. Mich kribbelt’s überall, so freut mich das, dass ich da wieder hinauf kann. So ein unglaubliches Gefühl.
Der Theo hat es halt nicht gewollt, dass ich flieg. Viel zu gefährlich wär das. Ich könnt ja abstürzen und dann, was tät er dann ohne mich. Ja, das hat er immer befürchtet, der Theo, dass er ohne mich sein muss. Aber jetzt ist er auch ohne mich, jetzt könnt er’s verkraften. Jahrelang hab ich mich vom Theo beschwatzen lassen. Und jetzt merk ich, wie die Sehnsucht zieht und mit mir hinaus will und hoch hinauf in den Himmel.
Was war ich doch für eine dumme Gans. Nur weil der Theo so lieb war immer. Nein, Theo. Ich mach jetzt, was ich will. Ich nehm keine Rücksicht mehr auf dich. Hast ja jahrelang auch keine auf mich genommen. Und jetzt musst du dich auch nicht um mich kümmern. Ich hab dich nicht drum gefragt. Das ist nur dein schlechtes Gewissen. Aber ich bin dir keine Rechenschaft mehr schuldig. Nein, nein. Der Theo hat sich das so eingerichtet. Jetzt muss er sich von mir nicht mehr erwarten, dass ich ihm zuliebe auf mich aufpass. Wo ich doch nie auf mich hab aufpassen wollen. Brauch dich nicht mehr. Ach, das mein ich nicht so, das weißt du doch. Ich brauch dich schon. Für unsere Nachmittage am See, wo wir die Enten füttern und uns über die alten Leute lustig machen. Wenn sie so verbiestert dreinschauen. Weil ihr Leben schon vorbei ist. Und wir gar nicht merken, dass wir auch schon so alt sind. Ja, Theo, so passen wir zusammen, wir zwei. Du.
Hast mich schon viel geärgert. Aber weißt du was? Ich erzähl’s dir gar nicht. Ja. Ich geh zu den Flugzeugen und flieg hinauf zum Himmel. Aber nachher erzählen tu ich’s dir nicht. Nein, ich behalt’s für mich. Das wird mein Geheimnis sein. Das ganze Glück nur für mich. Du verstehst das eh nicht. Hast es nie verstanden, sonst hättest du’s mir nicht immer verboten. Nein, du hast es mir nicht verboten, hast mich nur immer gebeten, es zu lassen. Und dann so treuherzig geschaut. Mitleid sollt ich mit dir haben, und das hab ich auch gehabt. Immer hast du es geschafft mit deinem Dackelblick. Wenn du da gestanden bist. Ja, du hast was von einem Hund. Die sind auch ewig treu und anhänglich. Aber manche gehen halt immer wieder auf die Pirsch und streunen herum. Und schauen einen dann so treuherzig an, wenn sie zurückkommen. Wie du. Ach Theo, wieso bist du nie der Mann gewesen, den ich gebraucht hätte. Dann wären wir nämlich zusammen geflogen, von Anfang an. Weißt ja gar nicht, was du verpasst hast. So viel Freiheit, wirkliche, echte, große Freiheit. Die tätest du gar nicht verkraften. Du hast dich eingerichtet in deiner heimlichen Welt. Klein und feige hast du dir das gesucht, was du Freiheit nennst. Und jetzt bist du zu alt, jetzt schaut dich keine kleine Freiheit mehr an. Aber die Freiheit, von der ich red, die gibt’s immer.
Der Platz war groß, sehr groß. Martha reckte ihre Arme, streckte sie nach außen, so weit es nur ging, und fing an, sich zu drehen. Ganz vorsichtig setzte sie einen Fuß über den anderen. Sie war aus der Übung. Was musste man tun, dass einem nicht schwindlig wurde? Einen Punkt fixieren, ja. Aber wo in dieser Weite des Platzes und des Himmels konnte sie sich mit ihren Augen festhalten? Sie drehte sich weiter. Das Tempo wurde schneller, ganz von selber. Es drehte sie. Auf die Hand schauen, sagte sie sich, schau in deine Handfläche, dann wird dir nicht schwindlig. Sie drehte immer schneller und schneller. Die Haare flatterten und der Rock hob sich von ihren Schenkeln ab. Die Welt um sie herum war ein Flirren von Farben und Formen.
‚Fort von hier, fort von hier, hin zu dir, hin zu dir. Da, wo die Vögel zwitschern. Da, wo die Wolken schweben, die Engel fliegen und die Sonne lacht. Fort von hier, fort von hier, hin, hin zu dir.‘
Sie merkte gar nicht, wie sie mit lauter zittriger Stimme dieses Lied sang. ‚Hin, hin zu dir.‘
Einen Schrei stieß sie aus, als könnte sie damit ihr ganzes Leben vergessen machen, die Zeit, in der sie sich hatte begrenzen lassen. Dabei war es so einfach: sich auf einen großen freien Platz stellen und sich drehen und drehen, bis die Welt und du sich ineinander verweben, ineinander greifen und mit dem Klang eins werden. Ihr Körper vibrierte bis in die Fingerspitzen, ihre Hände hielt sie immer noch ausgestreckt, ganz weit, als wollte sie den Himmel berühren.
„Liebst du mich? Ja?“ Ihre Worte verhallten nur langsam. „Liebst du mich? Liebst du mich?“ Wie besessen warf sie diese Frage hinaus in den Himmel, als wollte sie eine Kette bilden, eine Leiter, die sie hinauftragen würde. „Hin zu dir, hin zu dir. Liebst du mich? Ja?“
Das Summen war nicht die Antwort. Martha blickte hoch. Das strahlende Gelb, das ihre Augen traf, war nicht die Sonne. Auch stand sie nicht mehr. Ihr Körper lag ausgestreckt, um ihn herum alles weiß, Laken, Wände, Tisch. Sie hatte keine Antwort bekommen. Kein Ja war zurückgeschallt aus dem Himmel.
„Martha?“ Sie konnte nichts sehen außer dem Weiß und dem Gelb.
Gedreht hab ich mich und geflogen bin ich hinauf, bis an den Himmel bin ich gestoßen. Und dann bin ich wohl runtergefallen von der Leiter. ‚Hin, hin zu dir.‘ Der Theo darf nicht wissen, was ich gemacht hab. Das dürfen die Leute ihm nicht sagen.
Es zog sie hinab, ließ sie tiefer und tiefer in die Laken sinken. Sie glaubte mit dem Weiß des Bettes zu verschmelzen, als saugten die Leintücher an ihr und wollten sie umschlingen. Ihr Atem ging unregelmäßig, stoßend, es war wie ein Schluchzen. Sie spürte, wie ihre Wangen nass wurden. So tief traurig hatte sie sich noch nie gefühlt. „Martha“, hörte sie neben sich flüstern. „Martha.“
Martha stürzte hinab durch das Bett. Ein Fahrstuhl öffnete sich. ‚Schwarz wie die Nacht‘, dachte sie noch und „Nein“ schrie sie laut, doch es half nichts. Der Paternoster fuhr mit ihr hinauf und hinunter, sie schwankte wie auf einem Schiff, und die Dunkelheit, ein Auf und Ab in der Finsternis.
Sie wollte ihre Arme ausbreiten und sich drehen und drehen, immer schneller, dass die Haare ihr ums Gesicht flogen und laut singen wollte sie. ‚Fort, fort von hier, hin, hin zu dir.‘